Aktuelles und Typisierungs­aktionen

Knochenmarkspender Philip: Einer von hundert

von: Kathrin Roßdeutscher
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Wenige Stunden nach der Knochenmarkspende ist Philip B. schon wieder wohlauf. Dr. Joannis Mytilineos vom Ulmer Institut für Klinische Transfusionsmedizin und Immungenetik erklärt ihm, dass die gespendeten Blutstammzellen bereits unterwegs sind zu dem Leukämiepatienten, dem sie transplantiert werden sollen. Foto: Roland Ray

Artikel aus der Schwäbischen Zeitung vom 15.02.2017 Text: Roland Ray

Mit seiner Knochenmarkspende eröffnet Philip B. aus Ehingen einem Leukämiekranken die Chance weiterzuleben

Ulm sz Vor vier Jahren hat sich Philip aus Ehingen an einer Typisierungsaktion beteiligt. Die Wahrscheinlichkeit, je für eine Transplantation von Stammzellen infrage zu kommen, schien gering. Doch dann kam es anders.

Ein nebelverhangener Morgen im Winter. Die Semesterklausuren an der Hochschule beginnen, doch ein Platz im Prüfungssaal bleibt frei. Der BWL-Student Philip B. aus Ehingen, 22, hat an diesem Tag einen anderen Termin. Er liegt in einem OP der Universitätsklinik Ulm und lässt sich Knochenmark entnehmen. Die darin in hoher Konzentration enthaltenen Blutstammzellen werden dringend gebraucht, um einem Leukämiepatienten das Weiterleben zu ermöglichen.

Vor vier Jahren hatte Philip sich an einer Typisierungsaktion beteiligt. Ein Abstrich im Mund, ein Spenderpass – das war’s zunächst. Die Wahrscheinlichkeit, je für eine Transplantation von Stammzellen infrage zu kommen, schien gering. „Meine Eltern waren damals schon mehrere Jahre registriert“, erzählt Philip. „Sie sind noch nie kontaktiert worden.“

„Von 100 Menschen, die sich registrieren lassen, wird im Lauf der Zeit durchschnittlich einer um Hilfe gebeten“, sagt Joannis Mytilineos, Leiter der Abteilung Transplantationsimmunologie am Institut für Klinische Transfusionsmedizin und Immungenetik Ulm. Etwa 11400 Menschen erkranken nach seinen Angaben jährlich in Deutschland an Leukämie. Für viele Betroffene ist eine Stammzellspende die einzige Chance, den Blutkrebs zu besiegen. 

Bei der Typisierung werden die Gewebemerkmale bestimmt. Die Ergebnisse wandern ohne Personendaten in elektronische Verzeichnisse und können von Kliniken und Suchdiensten rund um den Erdball abgerufen werden. Durch die Digitalisierung geht das heute ungleich schneller als früher, die Ärzte gewinnen wertvolle Zeit. Je genauer die Gewebemerkmale des Stammzellspenders mit denen des Leukämiekranken übereinstimmen, desto besser die Erfolgsaussicht einer Transplantation. Fast 7,2 Millionen potenzielle Spender sind aktuell im zentralen deutschen Knochenmarkspenderregister (ZKRD) erfasst, weltweit etwa 28 Millionen. Dem nationalen Register fällt mithin eine wichtige Rolle zu.

Post von der Spenderdatei

Rund eineinhalb Jahre nach der Registrierung erhält Philip Post von der Deutschen Stammzellspenderdatei-Süd (DSSD) in Ulm. Er ist in der engeren Wahl für eine Spende. Doch es stellt sich heraus, dass andere Kandidaten für diesen Patienten noch besser geeignet sind. „Es klingt vielleicht komisch, aber ich war fast ein bisschen enttäuscht“, sagt Philip. „Aber es geht ja nicht um mich, sondern um den Empfänger.“

Im November 2016 klopft die DSSD erneut an. Schnell steht fest: Dieses Mal ist Philip, der inzwischen Betriebswirtschaftslehre studiert, der ideale Spender. Allerdings favorisieren die Ärzte mit Blick auf den Patienten nicht die periphere Blutstammzellspende, die heute in 80Prozent der Fälle angewendet wird, sondern sie möchten Knochenmark entnehmen.

Bei der seit etwa 15 Jahren praktizierten peripheren Methode werden die blutbildenden Stammzellen durch ein Medikament aus dem Knochenmark in die Blutbahn gelockt und herausgefiltert; das funktioniert ambulant und ohne Narkose. Bei Leukämiekranken mit erhöhtem Abstoßungsrisiko wird dagegen weiterhin bevorzugt der Beckenkamm des Spenders punktiert, wo etwa 90 Prozent der Stammzellen sitzen. Dieses Verfahren erfordert bis zu drei Tage Krankenhausaufenthalt und eine Vollnarkose.

Der Termin für die Transplantation wird, sobald ein Spender gefunden ist, Wochen im Voraus festgelegt. Der Patient bekommt bis dahin eine Chemotherapie, die alle Krebszellen abtöten soll und sein Immunsystem zerstört. Mit den Stammzellen des Spenders wird ein neues aufgebaut. Eine präzise zeitliche Taktung ist zwingend.

Just an dem Tag, an dem die Spende gebraucht wird, beginnen für Philip die Semesterprüfungen. Weder die Auftaktklausur noch die Transplantation lassen sich verschieben. Um Philip zu entlasten, schlägt die DSSD alternativ die weniger zeitintensive periphere Blutstammzellspende vor. „Ist das genauso effektiv für diesen Patienten?“, will der junge Mann wissen. Nicht ganz, lautet die Antwort. Philip zögert keine Sekunde: „Dann mache ich die Knochenmarkspende. Der Empfänger soll die optimale Behandlung bekommen.“

Was sind drei Tage Krankenhaus schon gegen ein Menschenleben, sagt der 22-Jährige. Die verpasste Prüfung könne er im nächsten Semester nachholen, der Patient habe vermutlich keine Optionen. „Das ist Ihnen sehr hoch anzurechnen“, lobt Dr. Mytilineos. „Das würde nicht jeder tun.“

In den Wochen vor dem OP-Termin wird Philip medizinisch umfassend untersucht. Die Ärzte wollen auf Nummer sicher gehen, weder der Spender noch der Empfänger soll einen Schaden davontragen. Das Risiko bei der Stammzellentnahme gilt als sehr gering. Philip tut alles, um jetzt ja nicht krank zu werden. Schon eine fiebrige Erkältung könnte den Eingriff gefährden. Er setzt vorsichtshalber mit dem Fußballtraining aus; sein Verein, Kreisliga B, muss vorübergehend auf den defensiven Mittelfeldspieler verzichten. Seine Mannschaftskameraden zeigen Verständnis, die Familie und die Freundin stehen sowieso hinter ihm.

Empfänger unbekannt

Je näher der OP-Termin rückt, desto bewusster wird Philip die Bedeutung seines Tuns. Er fragt sich, wem er wohl hilft – einem Mann, einer Frau, einem Kind, jemandem nicht weit von Ehingen oder am anderen Ende der Welt? Sein Name und seine Herkunft sind nur in der Spenderdatei hinterlegt; auch die transplantierende Klinik erhält keine Auskunft darüber und der Empfänger weiß nicht, woher das Transplantat kommt. Auf diese Weise soll jeder Druck von den Spendern und den Empfängern ferngehalten werden, es soll kein Gefühl der Abhängigkeit oder Verpflichtung entstehen. Erst nach zwei Jahren können sie sich persönlich kennenlernen, wenn beide es wollen – Philip möchte gern. Bis dahin dürfen sie sich, vermittelt über die Spenderdatei, anonym Briefe schreiben.

Einen Tag vor der Knochenmark-entnahme rückt Philip ins Ulmer Klinikum ein. Sein Einzelzimmer befindet sich auf der Transplantationsstation. Es ist ausgestattet mit Flachbildschirm und Lesesessel, ins Auge fallen aber auch die medizinischen Apparaturen und das aufwendige Be- und Entlüftungssystem. Hier kämpfen sich für gewöhnlich Transplantierte, überwacht und gegen schädliche Umwelteinflüsse abgeschirmt, ins Leben zurück.

Am nächsten Morgen liegt Philip im OP auf dem Bauch und bekommt nichts mehr mit. Mit einer dicken Nadel punktieren die Ärzte den Beckenknochen. „Man versucht möglichst viel Knochenmark aus den Hohlräumen abzusaugen“, erklärt Dr. Mytilineos, der bei dem Eingriff dabei ist. Schon nach wenigen Einstichen ist genügend Material gesammelt. Noch im OP wird es vorgefiltert und in einen Blutbeutel gefüllt. Mytilineos eilt damit ins Labor. Die Stammzellen werden aufgereinigt und das Transplantat in einen Beutel eingeschweißt. Am Nachmittag holt es ein Kurier ab und bringt es in einer Kühlbox in die Klinik, in der der Empfänger liegt.

60-prozentige Chance auf Heilung

„Es sollte immer möglichst zeitnah transplantiert werden“, erklärt Mytilineos. Die gespendeten Stammzellen nisten sich im Knochenmark des Leukämiepatienten ein und nehmen mit einer Quote von annähernd 100Prozent ihre blutbildende Funktion wieder auf. Das allein sage noch nichts über den Langzeiterfolg der Behandlung, betont Mytilineos. Doch in vielen Fällen sei ein entscheidender Schritt getan. „Die Heilungschancen nach einer Transplantation hängen von mehreren Faktoren ab. Nimmt man alle Patienten zusammen, liegt die Quote bei knapp 60 Prozent.“

Nur 45 Minuten hat der Eingriff bei Philip gedauert. Ein paar Stunden später sitzt er im Bett und ist schon wieder wohlauf. Professor Donald Bunjes, Leiter der Ulmer Erwachsenen-Transplantationseinheit, schaut vorbei und erkundigt sich nach dem Befinden. „Sie haben es uns leicht gemacht“, sagt er.

Eine Nacht bleibt Philip noch zur Beobachtung in der Klinik, dann darf er nach Hause. Nur wenige Tage später stehen die nächsten Klausuren an: Wirtschaftsethik, Personalmanagement. Die Hand, in der die Kanüle für die Narkose steckte, schmerzt beim Schreiben.

 

Jetzt heißt es abwarten, wie die gespendeten Stammzellen anschlagen. Während Philip wieder seinem gewohnten Tagesablauf nachgeht und sein Knochenmark sich binnen Kurzem regeneriert, hat der Empfänger noch einen schwierigen Weg vor sich. Nach drei Monaten darf Philip – natürlich anonym – nachfragen, wie es „seinem“ Patienten geht. Er sagt: „Ich würde jederzeit wieder so handeln. Schon deshalb, weil auch ich irgendwann an Leukämie erkranken könnte und dann froh wäre, wenn mir jemand hilft.“ Er hofft, dass viele seinem Beispiel folgen und sich typisieren lassen. Je mehr Menschen das tun, desto größer die Chance für alle.

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